Deutschlands Einfrieren bedroht die europäische Wirtschaft | Wirtschaft und Business
Europas Wirtschaftsmotor ist ins Stocken geraten. Während Deutschland niest und die Eurozone sich eine Erkältung einfängt, beobachten wichtige EU-Hauptstädte aufmerksam, was in Berlin passiert. Zum jetzigen Zeitpunkt sind die Aussichten nicht optimistisch. Die fünf größten Wirtschaftsforschungs- und Analysehäuser des Landes haben ihre Prognosen für 2024 deutlich gesenkt: Noch vor einem halben Jahr wurde ein Wachstum der deutschen Wirtschaft von 1,3 % erwartet, nun wurde die Prognose auf 0,1 % gesenkt.
Die Revisionen erfolgen, nachdem das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr 2023 um 0,3 % gesunken ist, was den deutschen Wirtschaftsminister Robert Habeck dazu veranlasste, die Aussichten als „dramatisch schlechter“ zu bezeichnen. Die ersten Zinssenkungen in den kommenden Monaten werden entscheidend dafür sein, ob es dem Land gelingt, aus der Krise herauszukommen.
Bei Bauernprotesten werden Traktoren in Berlin stillgelegt Verlassene Flughäfen in Frankfurt und Hamburg. Dunkle Bahnhöfe in München. Dies sind einige der Bilder, die in den letzten drei Monaten in Deutschland aufgenommen wurden. Das Land kämpft gleichzeitig mit den Forderungen der Gewerkschaften, die Kaufkraft der Arbeitnehmer zurückzugewinnen, und bringt die Wirtschaft zum Erliegen. Diese Situation beginnt sich auch auf andere Teile Europas auszuwirken. Und das aus gutem Grund: Auf Deutschland entfällt immer noch mehr als ein Viertel des Vermögens der Eurozone. „Die Wirtschaft der Eurozone wächst aufgrund der starken Abhängigkeit und Verflechtung zwischen Deutschland und anderen Ländern wie Frankreich und Italien weniger“, erklärt Raymond Torres, Wirtschaftsdirektor der Sparkassenstiftung (FUNCAS). „Es ist noch zu früh, um zu sagen, was mittelfristig passieren wird, aber die kurzfristigen Auswirkungen sind eindeutig negativ.“
Große internationale Institutionen – wie der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) – haben bereits vor einer möglichen Ansteckungswirkung gewarnt. Alle Prognosen deuten auf alarmierende Fortschritte in Ländern wie Frankreich und Italien und damit auch in der Eurozone selbst hin. Ende Januar prognostizierte die IWF-Prognose für 2024 ein Wachstum von 1 % bzw. 0,7 % für Paris und Rom, während die Eurozone um 0,9 % wachsen würde. Wenige Tage später folgte die OECD und prognostizierte ein Wachstum von 0,6 %, 0,7 % und 0,6 %.
Allerdings beziffern beide Gremien die Prognose für Spanien, das derzeit weniger stark von Deutschland abhängig ist, auf 1,5 %. „Spanien ist in einer besseren Position als der Rest der EU“, sagte EU-Wirtschaftskommissar Paulo Gentiloni in einem Interview mit EL PAÍS. Und selbst wenn Länder wie Spanien die Wirtschaft weiter ankurbelten, reichte ihr Tempo nicht aus, um die Stagnation in Deutschland auszugleichen.
Tatsächlich gehen die Analysten des Beratungsunternehmens BCA Research davon aus, dass die Eurozone im Jahr 2024 in eine leichte Rezession geraten könnte, selbst wenn es der EU als Ganzes gelingt, diese zu vermeiden. Immerhin macht Deutschland immer noch 28 % der Wirtschaft des Euroraums aus. In einer aktuellen Veröffentlichung Restliches Europa und DeutschlandBCA-Untersuchungen kamen zu dem Schluss, dass das BIP der Eurozone ohne Deutschland in den letzten drei Jahren um 12,8 % gewachsen wäre, verglichen mit 10,6 %, wie offizielle Zahlen zeigen. Laut Mathieu Savary, Leiter der europäischen Strategie bei BCA, besteht das Problem darin, dass dieser Trend anhalten wird, bis Berlin mit materiellen Hindernissen wie der Energiewende, Sparmaßnahmen, Immobilienproblemen und einer schwachen Auslandsnachfrage konfrontiert wird. „Dieser Gegenwind schmälert den Konsum und das nationale Bruttoinlandsprodukt.“ All diese Schwierigkeiten hätten für andere EU-Länder deutlich geringere Auswirkungen, fügt er hinzu.
Für Deutschland, so Torres weiter, sei das Land mit der Kombination zweier wirtschaftlicher Schocks konfrontiert. Zum einen handelt es sich um die Inflation, einen starken Anstieg der Zinsen und einen Kaufkraftverlust der privaten Haushalte, der sich auf den privaten Konsum auswirkt. Diese Situation hat auch andere europäische Märkte betroffen, die Auswirkungen haben sich jedoch im Laufe der Zeit abgeschwächt. Der zweite Schock, sagt Torres, hängt mit der Transformation der deutschen Nation selbst und ihres Produktionsmodells zusammen, was bedeutet, dass die Auswirkungen struktureller Natur sind.
Bis vor wenigen Jahren wurde die deutsche Volkswirtschaft durch die günstige Versorgung mit russischer Energie und die Auslagerung eines Teils der Produktion in asiatische Länder, vor allem nach China, getragen. Mit anderen Worten: Es ist stärker von Moskau und Peking abhängig als andere EU-Länder, was im Hinblick auf die aktuellen geopolitischen Spannungen und den Vorstoß zur Umstellung auf grüne Energie erhebliche Konsequenzen hat. Die Entscheidung des Landes, den Kauf von russischem Gas nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine einzustellen, hatte offensichtliche Konsequenzen. Wichtig ist aber auch der Blick auf China, Deutschlands zweitgrößten Nicht-EU-Handelspartner. Sinkende Exporte nach China und ein zunehmender Wettbewerb in der Automobilindustrie, insbesondere bei Elektrofahrzeugen, haben einen hohen Tribut gefordert.
Ein weiterer Faktor ist die schwache Investitionstätigkeit der Unternehmen in Deutschland. Kurzfristig, sagt Timo Wolmershäuser, Volkswirt und stellvertretender Direktor des Ifo-Instituts, leide die deutsche Industrie unter einer schwachen globalen Nachfrage nach Investitions- und Vorleistungsgütern, auf die sich die deutsche Industrie spezialisiert habe.
Neben schwachen Exporten bestehe „eine große Unsicherheit über die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung“, sagt Vollmarscher. Dies führte dazu, dass Unternehmen ihre Investitionsentscheidungen verschoben. Aus diesem Grund, sagt er, „hat Deutschland als Geschäftsstandort an Attraktivität verloren.“ Weitere Gründe sind Wolmershäuser zufolge hohe Steuern, bürokratische Hürden, schleppende Digitalisierung, hohe Energiepreise und Arbeitskräftemangel. Aufgrund all dieser Faktoren schätzt der IWF, dass Deutschland als G7-Land im Jahr 2024 das langsamste Wachstum verzeichnen wird: Im vergangenen Jahr schrumpfte die einzige Volkswirtschaft der Gruppe.
Aussicht nach Süden
BCA Research geht davon aus, dass ein geringeres Wachstum in Deutschland die Eurozone belasten oder eine Ansteckungswirkung auf andere Volkswirtschaften wie Frankreich oder Italien haben könnte. Die globale Wachstumsdynamik der letzten 12 Monate scheint Europa weitgehend überholt zu haben. Die Region kämpft mit den Folgen hoher Energiepreise, hoher Zinssätze zur Eindämmung der Inflation und schwachem Verbrauchervertrauen. „Dieser Gegenwind trifft die produzierenden Unternehmen besonders hart, auch in Deutschland“, sagt Alfred Kammer, IWF-Europadirektor.
Laut Analysten wird sich der Abstand zwischen Deutschland und dem Rest Europas – insbesondere im Süden – in diesem Jahr vergrößern, da ersterer weiterhin stagniert und letzterer sich verbessert. Nach Angaben der Europäischen Kommission soll Spanien im Jahr 2024 um 1,7 % und im Jahr 2025 um 2 % wachsen, während Griechenland, Portugal, Malta und Zypern starke Zuwächse prognostizieren.
Doch Angel Talavera, Leiter der europäischen Wirtschaftsabteilung bei Oxford Economics, glaubt, dass der Süden nicht in der Lage sein wird, die gesamte Region anzukurbeln: „Die Stagnation in Deutschland wird die Eurozone unweigerlich in ein weiteres Jahr mit sehr geringem Wachstum führen“, erklärt er. Berlin ist wie der Rest der EU von steigenden Zinsen betroffen. Talavera behauptet jedoch, dass das Land mit zusätzlichen Problemen konfrontiert sei, wie etwa einer geringen Nachfrage – insbesondere aus dem Ausland – und regulatorischen Hürden mit langen Wartezeiten auf Projektgenehmigungen, die Investitionen behindern.
Angesichts der Schwierigkeiten in Deutschland, sagt Torres, könnten viele multinationale Unternehmen ihre Investitionen überdenken und sich dort niederlassen. Bisher habe es noch nicht zu Standortverlagerungen geführt, allerdings „zeigt sich ein Trendwechsel bei Neuinvestitionen“, sagt er.
Der IWF argumentiert, dass Europas Wachstumsaussichten auch bei einem kurzfristigen Wachstumsanstieg düster bleiben, sofern keine Reformen umgesetzt werden. Alfred Gummer weist darauf hin, dass das Pro-Kopf-Einkommen in Europa um ein Drittel unter dem US-Durchschnitt liegt, und sagt, dass es für die Region wichtig sei, die Produktivität durch „den Abbau interner Barrieren“ zu verbessern und das Potenzial des Binnenmarktes auszuschöpfen. Dies müsse durch Veränderungen auf nationaler Ebene ergänzt werden, fügt er hinzu: „In Deutschland besteht eine erhebliche Chance, Bürokratie und Hemmnisse bei der Unternehmensgründung abzubauen.“
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