Arbeitnehmer verlieren mehr Lohn als je zuvor
Deutschlands Arbeitnehmer werden im Jahr 2022 erhebliche Teile ihres Lohns verlieren – so viele wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Das geht aus einer Statistik der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hervor. Seine Forscher werteten die Löhne von rund 20 Millionen Arbeitnehmern aus, die im Rahmen von Tarifverträgen bezahlt wurden.
Auf dem Papier steht eine Steigerung: Die Löhne stiegen im Schnitt um 2,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Angesichts der historisch hohen Inflation, die für das Jahr auf 7,8 Prozent geschätzt wird, liegt der Durchschnitt bei satten minus 4,7 Prozent. Thorsten Schulten, Leiter des Lohnarchivs bei der Böckler-Stiftung, spricht von „einem in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beispiellosen realen Lohnausfall“.
Forscher nennen dafür zwei Gründe. Erstens wurden viele der Tarifverträge, nach denen die Arbeitnehmer derzeit bezahlt werden, vor der aktuellen Krise gekündigt und in diesem Jahr nicht neu verhandelt. Die Inflation, die bereits in den Vormonaten gestiegen war, stieg seit dem Frühjahr infolge des Angriffskriegs Russlands um die Ukraine wieder stark an.
Ein zweiter Grund ist, dass viele der in diesem Jahr ausgelaufenen Tarifverträge erst im nächsten Jahr deutliche Lohnerhöhungen oder Pauschalzahlungen vorsahen.
Schöner Tarifvertrag – aber das Geld kommt erst 2023 oder 2024
Ein gutes Beispiel dafür ist der wichtigste Tarifvertrag des Jahres in der Metall- und Elektroindustrie, von dem fast vier Millionen Beschäftigte betroffen sind. Die IG Metall erhielt zwar eine kräftige Aufstockung – 8,5 Prozent mehr Gehalt in zwei Stufen und zwei Sonderzahlungen in Höhe von insgesamt 3.000 Euro –, das Geld kommt aber erst im nächsten und übernächsten Jahr bei den Mitarbeitern an.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Mitarbeiter in diesem Jahr völlig schutzlos sind. Viele profitieren von staatlichen Entlastungspaketen wie Sonderzahlungen oder Strom- und Gaspreisbremsen. Diese Instrumente werden jedoch erst 2023 voll funktionsfähig sein.
Das dritte Jahr in Folge sind die Löhne der Lohnkommissionsangestellten gesunken. 2021 und 2020 schrumpften sie aufgrund der durch die Corona-Pandemie ausgelösten Wirtschaftskrise um insgesamt sieben Prozent. In den 2010er Jahren stiegen die Reallöhne laut Böckler-Stiftung dagegen um 14 Prozent.
Trotz des insgesamt schwachen Wachstums enthielt der Bericht auch gute Nachrichten: In einigen Branchen gingen die Löhne der Beschäftigten entgegen dem Trend nicht zurück. Dazu gehören vor allem klassische Niedriglohnberufe wie das Bäckerhandwerk, das Hotel- und Gaststättengewerbe sowie die Gebäudereinigung. Grund dafür sehen Analysten darin, dass die Bundesregierung den Mindestlohn auf zwölf Euro angehoben hat. Sie hat auch die Tariflöhne in diesen Sektoren angehoben.
Forscher erwarten, dass die Löhne im Jahr 2023 deutlich steigen werden – und sie könnten Recht haben. Einerseits treten neue, bessere Tarifverträge in Kraft, beispielsweise in der Hütten- und Chemieindustrie.
Andererseits fordern die Gewerkschaften in den anstehenden Schlüsselrunden deutlich höhere Löhne, vor allem im öffentlichen Dienst. Für mehr als zwei Millionen Beschäftigte in Bund und Kommunen fordern Verdi und die Beamtengewerkschaft eine Erhöhung um 10,5 Prozent. Die Verhandlungen beginnen dort Ende Januar.
Böckler-Ökonom Schulten hält die hohen Anforderungen für gerechtfertigt: Ziel sei es, angesichts der kommenden Rezession „die private Nachfrage aufrechtzuerhalten und das gesamtwirtschaftliche Wachstum zu stabilisieren“.
Bild von Erdenebyer Paysan
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